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Der Hund in unserer Gesellschaft (1)

Unsere Gesellschaft duldet nicht den freilebenden Hund; ein solcher wird eingefangen, ins Tierheim gegeben oder letztlich getötet, wenn sich für ihn kein neuer Besitzer findet. Mit anderen Worten, sämtliche lebenden Hunde in unserer Gesellschaft befinden sich irgendwie unter der Kontrolle von Menschen.

Diese Aussage ist umkehrbar: Nur dadurch, dass der Mensch sich zum Hund noch eine besondere Beziehung bewahrt hat und diese Beziehung auch pflegt, hat der Hund vergleichsweise zu anderen Tierarten eine hohe Überlebenschance.

Der Mensch ist auf dem Wege, zahlreiche biologische Arten auszurotten, indem er ihnen den natürlichen Lebensraum wegnimmt, sei es durch dessen Störung und Zerstörung, oder durch direkte Vernichtung der Arten.

Eine andere Weise, den Lebensraum von Tieren einzuengen, vollzieht sich gegenwärtig in Form von Medienkampagnen, z. B. gegen den Hund. Bei allem Lebensfeindlichen, das unsere naturentfremdete Gesellschaft allem Natürlichen entgegenstellt, muss doch, auf die Hundehaltung bezogen, in aller Klarheit folgendes festgehalten werden:

Die meisten Probleme mit dem Hund können bei aller Differenziertheit des Einzelfalles dennoch zu gleichartigen Problemgruppen zusammengefasst werden:

• Nicht jeder Mensch ist ein Hundefreund. Dies ist keineswegs ein Werturteil, sondern eine wertneutrale Feststellung; man darf annehmen, dass das schon immer so war.

• Die menschliche Gesellschaft hat ein Recht darauf, dass Hundehaltung nicht zur Belastung für die Gesellschaft wird. Hundehaltung war immer und ist gegenwärtig in besonderem Maße eine verantwortungsvolle Angelegenheit.

• Nicht jeder Hundeliebhaber ist sich der Tragweite bewusst, die sich für ihn selbst, seinen Hund und für seine Umgebung ergibt, wenn er einen Hund in sein Haus nimmt.

Damit dennoch Hundehaltung jetzt und zukünftig für die Gesellschaft tolerierbar und für den Hundebesitzer erstrebenswert bleibt, seien hier einige Denkanstöße gegeben:

• Der Hund muss nicht bei der Begrüßung jeden Besucher oder Straßenpassanten anspringen.
• Der Hund muss nicht überall und beliebig seinen Kot und Urin absetzen.
• Der Hund muss nicht ständig kläffen.
• Der Hund muss nicht Joggern, Radfahrern oder Kindern hinterher rennen.
• Der Hund muss nicht gegenüber anderen Hunden aggressiv sein.
• Der Hund muss nicht Vögel, Enten, Kaninchen, Katzen usw. jagen.


Beziehung: Mensch - Tier

Der Mensch hat es schon früh verstanden, Tierarten für seine Zwecke nutzbar zu machen. Beispiele hierfür sind Pferde, Kamele, Kühe, Schafe, Schweine, kurzum alle domestizierten Tiere, aber auch Tauben, Falken, Panter u. v. a. oder gar Giftschlangen zum Bewachen von Schätzen. In jedem Falle hat der Mensch sich die den Tierarten wesentlichen Erbanlagen und die damit verbundenen spezifischen Verhaltensweisen und besonderen Fähigkeiten zu Nutze gemacht. Damit dies in bester Weise geschehen konnte, hat er die Tiere und deren Verhalten intensiv beobachtet und erforscht, lange bevor die heutige Verhaltensforschung erfunden wurde.


Beziehung: Mensch - Maschine

Man darf annehmen, dass in dem Maße, wie die Fähigkeiten der Tiere durch technische Errungenschaften ersetzbar oder gar überboten bzw., wie durch die Entwicklung neuer menschlicher Gesellschaftsformen bestimmte Tiere überflüssig wurden, der Mensch sich auch immer mehr aus der natürlichen Verbundenheit mit dem Tier löste. Dies hatte und hat zur Folge, dass der Mensch die Tiere immer weniger verstand und versteht.
Vielmehr entwickelte er einen ausgesprochenen Scharfsinn für technische Entwicklungen. Es ist unverkennbar, dass junge Menschen einen wesentlich rascheren Zugang z. B. zu Computern finden, als die ältere Generation, was nicht notwendigerweise mit altersbedingter Abnahme geistiger Fähigkeiten zu begründen ist.
Und welcher Landwirt käme schon auf die Idee, seine modernen Ackergeräte mit 120 Pferden anstatt mit einer 120 PS starken Zugmaschine zu ziehen?
Ein weiterer Gesichtspunkt ist von außerordentlicher Bedeutung: Technische Geräte lassen sich beliebig ein- und ausschalten, Tiere aber nicht; außerdem braucht man sie nicht zu füttern.


Beziehung: Mensch - Hund

Der Hund ist ebenso wenig eine Maschine wie der Mensch. Obwohl wir uns dessen bewusst sind, behandeln wir dennoch unsere Hunde wie Maschinen: Wir tolerieren zwar bestenfalls eine gewisse Lernphase des Hundes, aber wenn er einmal etwas gelernt hat, genügt, so glauben wir, quasi ein „Knopfdruck", und der Hund hat zu funktionieren und zwar gerade so und solange, wie es uns beliebt. Anschließend stellen wir die „Maschine Hund" wieder ab.
Alles ist wie selbstverständlich geworden: Autoschlüssel ins Zündschloss stecken, einschalten, Gas geben - und schon läuft das Auto. Was kümmert uns schon die komplizierte Kette an Vorgängen, die sich vom Zünden der Zündkerze bis hin zum Motorstart abspielt? Zudem brauchen wir bei keinem der zahlreichen Funktionsabläufe auch nur ein einziges gutes Wort zu geben; oder haben Sie je den Zündfunken ein „so ist brav" zurufen müssen, damit er auch zum wiederholten Male das Gasgemisch zündet? Ein auch noch so lautes Schimpfen mit der Zündkerze hilft nicht, wenn das Zündkabel nicht angeschlossen ist.
Zurück zum Sachlichen! Sie fragen, was sollen diese unsinnigen Vergleiche? Sie hätten völlig Recht, wenn Hundebesitzer nicht - vergleichbar diesen Beispielen - gelegentlich so mit ihren Hunden umgehen würden.
Entweder kann der Hund aufgrund seiner genetischen Veranlagung nicht den Erwartungen entsprechen, oder der Besitzer ist nicht in der Lage, den besonderen Veranlagungen des Hundes nachzukommen. Daß es in solchen Fällen trotz gegensätzlicher Voraussetzungen selten zu Konflikten zwischen Mensch und Hund kommt, erklärt sich dadurch, daß der Hund eben wegen seines erbmäßig bedingten Rudelverhaltens sehr anpassungsfähig ist und sich somit schließlich den gegebenen Umständen fügt, auch wenn diese keineswegs seinen ureigenen Bedürfnissen und Fähigkeiten gerecht werden. Dort, wo diese Anpassung nicht zum Tragen kommt, trennt der Besitzer sich wegen aufkommender Probleme von seinem Hund oder es treten, wie das häufig zu beobachten ist, psychische Störungen (Neurosen) beim Hund auf, die Ursache anderer Probleme werden.
Probleme, deren Ursache beim Hundehalter liegen, gibt es in Hülle und Fülle. Nicht jedes Problem muß sich sogleich darin äußern, daß der Hund zum Beißer und Killer wird; solchen extremen Auswüchsen steht der Mensch wegen seiner Überlegenheit in der Regel ohnehin entgegen.
Setzen wir voraus, daß die Anschaffung des Hundes aus Liebe und Verbundenheit zum Tier und wegen der Möglichkeiten zur Beschäftigung mit dem Hund erfolgt ist, darf man annehmen, daß der Hundehalter sich eine gute Beziehung zum Hund wünscht. Wie kommt es dann trotzdem zu Schwierigkeiten? Die Antwort ist ebenso einfach wie verblüffend: Der Hundebesitzer ist nicht (Rudel-)Führer seines Hundes.
Mit dieser Feststellung wenden wir uns einer Thematik zu, deren tieferes Verständnis im Zusammenhang mit der Behandlung der Wesensveranlagungen des Hundes eröffnet wird.


Sozialverhalten des Hundes - Der Hund als Rudeltier

Das oberste Ziel eines jeden Sozialverhaltens ist in der Existenzsicherung des Individuums und der Sippe zu sehen. Im Gegensatz zu anderen Tiergattungen, die sich z.B. als Paare oder als Einzelgänger organisiert haben, scheint es für den Hund sinnvoller zu sein, wesentlichen Aufgaben seines (Über-)Lebens in der Gemeinschaft, also im Rudel wahrzunehmen. Das gilt für die Nahrungssuche und Nahrungsbeschaffung, für die Pflege der Sippe und für die Sicherung der Fortpflanzung, aber auch für die Absicherung des eigenen Lebensraums.
Das angeborenen Sozialverhalten des Hundes, im Rudel zu leben, setzt biologisch voraus, daß die Rudelmitglieder veranlagungsbedingt eine hierarchische Struktur, d.h. eine Rangordnung innerhalb des eigenen Rudels einnehmen und anerkennen.


Rangordnung - Was ist das?

Die Organisationsform des Rudels beruht auf dem Grundsatz der Über- und Unterordnung. Wir nennen es die Rangordnung des Rudels.
Die Rangordnung ist diejenige Struktur, innerhalb der das Hunderudel lebt. Es ist zweifellos faszinierend, an Schriften wie z.B. von Lorenz, Trumler u.a. nachzulesen, auf welchen Wegen Verhaltensforschung und Psychobiologie zu den derzeitigen Erkenntnissen gekommen sind. Aber an dieser Stelle liegt das Augenmerk nicht auf der beispielhaften Wiedergabe von Beobachtungen, sondern wir wollen versuchen, besten praktischen Nutzen aus den Ergebnissen dieser Beobachtungen für die Erziehung und Ausbildung des Hundes zu ziehen. In diesem Sinne führen uns Verhaltensforschung und Psychobiologie zu folgender Erkenntnis:
Der Hund kennt von Natur aus die Über- und Unterordnung an. Was bedeutet das? Für den Bestand des Rudels ist es wichtig, daß es ein Leittier hat, das Herrscher über das Rudel ist. Dieser Herrscher heißt Rudelführer, Leittier oder Alpha-Tier. Wer innerhalb des Rudels Leittier wird, entscheidet sich durch Rangordnungskämpfe. Somit gelangt jeweils nur derjenige Hund an die Führungsspitze, der sich im Sinne der Arterhaltung genetisch und im Sinne der Fortentwicklung der Art als am besten erweist. Bei dem Gedanken daran, wer ist der "Beste", gelangen wir leicht zu Trugschlüssen: Entgegen der häufig vertretenen Auffassung, der Beste sei gleichbedeutend mit der besonders Große und der besonders Starke in seiner Sippe, der Draufgänger, der Furchtlose, der vor keiner Auseinandersetzung Zurückschreckende, der Aggressive und was sonst noch, sieht das von Seiten der Natur (besser gesagt: Aus dem Blickwinkel der Evolution) viel differenzierter aus.
Derjenige ist der Beste, der sich den gegebenen (Lebens-) Umständen am besten anpaßt. Ist er z.B. zu draufgängerisch, wird er rasch zum Opfer der überlegenen anderen Tierart, oder, wird er für die Aufgabe des Jagens und Hetzens zu groß und zu massig, dann fehlt es ihm an Wendigkeit, seine Beute zu fangen, oder, wird er seinen eigenen Artgenossen gegenüber zu aggressiv, schadet er dem eigenen Rudel und wird deswegen von ihm getötet. Derjenige ist der Beste, der die günstigsten für den Fortbestand und die Arterhaltung erforderlichen Wesensmerkmale besitzt. Unartige Nachkommen gefährden das Rudel ebenso wie schwache Nachkommen.


Der Rudelführer

Gleichrangige Rudelführer gibt es in einem Rudel nicht. Entweder verläßt der Gleichrangige das Rudel und gründet eine eigene Familie oder er wird vom eigenen Rudel getötet. Erst, wenn der alternde oder z.B. durch Verletzungen geschädigte Rudelführer nicht mehr seinen natürlichen und veranlagungsbedingten Aufgaben nachkommen kann, setzt sich der neue, in der Regel dann jüngere Rudelführer durch.
Es scheint naturgewollt so zu sein, daß nach außen hin, d.h. auch für den Menschen sichtbar, jeweils einem Rüden die Aufgabe des Rudelführers zufällt. Ob aber nicht letztlich doch die kompromißlosere Hündin das Sagen in einem Rudel hat, läßt sich nicht eindeutig beantworten, obgleich Beobachtungen dies nahelegen.
Wie sieht es mit der weiteren Rangordnung im Rudel aus? Schon der eben erst geborene Welpe zeigt einen starken Lebenswillen (Biotonus). Der Drang, Erster an der größten Zitze der Mutter zu sein, sich im Gerangel mit den Geschwistern um Beute zu behaupten, den dicksten Happen zu gewinnen und diesen auch zu behalten, - was weitaus schwieriger ist, als das vorübergehende Gewinnen, - sind naturgegebene Veranlagungen. Sie führen letztlich dazu, daß jedes Rudelmitglied einen bestimmten Platz in der Rangordnung des Rudels erwirbt. Solange diese Rangordnung durch nichts gestört wird, fühlt sich jedes Rudelmitglied auf seiner Rangstufe wohl und zufrieden. Es unterliegt, wie die Verhaltensforschung zeigt, keinerlei Gefahr der Profilneurose.
Diese für das Zusammenleben mit dem Menschen wunderbaren und einmaligen Voraussetzungen sind es, die es ermöglichten, aus frei lebenden Wildhunden Haustiere zu machen. Damit aber der Hund wirklich zur Freude des Menschen und zu seiner eigenen, also des Hundes Zufriedenheit "im Rudel mit dem Menschen" leben kann, müssen die natürlichen Gesetzmäßigkeiten des Rudelverhaltens beachtet werden.


Der Mensch als Rudelführer

Einige scheinbar abwegige Gedanken
Die folgenden Ausführungen wären absolut überflüssig, wenn die Menschen unserer derzeitigen zivilisierten Welt sich mehr von der Naturverbundenheit unserer Vorfahren bewahrt hätten.
Demokratie, Pluralismus, Mitbestimmung, Eigen- und Selbständigkeit von Mann und Frau im Berufsleben und anderes mehr haben bei allen anzuerkennenden Vorteilen für unser kulturelles und wirtschaftliches Dasein den gemeinsamen Nachteil, daß sie über die Tatsache hinwegtäuschen, daß auch unsere Gesellschaftsstruktur letztlich hierarchisch, also nach Rangordnungen geregelt ist. Der oft strapazierte Begriff Freiheit, den die Klassiker unserer Zeit als Pflicht zur Enscheidung gegen Willkür und Zügellosigkeit scharf abgrenzten, ist einem steten Wandel unterworfen. Selbst dort, wo in negativer Sicht Freiheit als frei sein von allen Bindungen und frei für jegliche Willkür verstanden wird, legen uns die äußeren Umstände und das eigene Unvermögen Fesseln an, die jedem einzelnen von uns eine Rangordnung aufzwingen, ob wir das wahrhaben wollen oder nicht.
Es ist im Zuge der weiteren Darlegungen von grundlegender Bedeutung, daß wir uns des Begriffes Rangfolge voll und ganz bewußt werden. Was für frühere Generationen und z.Zt. noch lebende Urvölker selbstverständlich ist, müssen wir uns in unserer zivilisierten Welt zunächst einmal in aller Offenheit und Ehrlichkeit klarmachen. Erst, wenn das gelungen ist, vermögen wir zu erkennen, wie tief das Erbgut Rangordnung im Charakter des Hundes verankert ist.
Vieles von dem, was noch vor wenigen Jahrzehnten Menschen an den Ruin brachte, wird heute z.B. durch die Sozialgesetzgebung und ihre Anwendung abgefangen. Wenn tragisches Schicksal dazu zwingt, z.B. nach dem Ableben des Familienoberhauptes, des sogenannten Haupternährers, dessen Rolle in aller Konsequenz zu übernehmen, erfahren wir sehr deutlich, welche Verantwortung, welche Anforderungen und welche Notwendigkeit zur Übernahme der Führungsrolle zum Überleben der Hinterbliebenen damit verbunden ist.
Der Hund kennt keine Sozialgesetzgebung. Er muß, und dieses Muß ist ihm als naturgegebene unausweichliche Forderung mitgegeben, er muß die Rolle des Rudelführers übernehmen, wenn das kein anderer für ihn tut. Im Hunderudel fällt diese Aufgabe dem nächstrangig höheren Tier zu. Um den jeweils besten Rudelführer zu ermitteln, hat die Natur den Kampf um die Rangfolge "erfunden". Da dies, und das soll abschließend zu dieser allgemeinen Betrachtung nochmals hervorgehoben werden, für das Überleben eines Rudels so wichtig ist, üben sich schon die Welpen, - wenn auch spielerisch -, naturgegeben in diesen Rangordnungskämpfen.
Mit dieser doppelten Veranlagung, nämlich der außerordentlichen Anpassungsfähigkeit einerseits, andererseits der kompromißlosen und unausweichlichen, weil erbmäßig bedingten Zielstrebigkeit, im Notfall Rudelführer sein zu müssen, gelangt der Welpe zu seinem Besitzer. Damit wird der Welpe nicht nur aus seiner gewohnten Umgebung herausgenommen, sondern es fehlt ihm auch die Fürsorge der Mutter, die Gesellschaft der Geschwister und die Geborgenheit des Rudels.
Bedenken wir weiter, daß der Welpe bei freilebenden Wildhunden etwa mit Beginn der 9. Lebenswoche in die Erziehung des Rüden übergehen würde, wird allzu deutlich, eine wie einschneidende Entwicklungszeit für den Welpen von da an beginnt. Dieser natürliche Übergang der Erziehungsaufgabe von der Mutter zum Rüden ist im übrigen der tiefere Grund dafür, daß Welpen tunlichst nach der 8. Lebenswoche an ihre neuen Besitzer abgegeben werden. Das ist aber auch der Zeitpunkt, ab welchem dem neuen Besitzer eine besondere Aufgabe zufällt: Er soll ab sofort für den Welpen der Rudelführer sein.
Leider fehlt den meisten Welpenkäufern die Möglichkeit, sich an praktischen Beispielen auf die Rolle als Rudelführer vorzubereiten. Solide Welpenkäufer informieren sich daher schon vor der Übernahme eines Welpen bei erfahrenen Züchtern, Hundeführern oder zumindest durch Lesen geeigneter Aufsätze.
Wer einmal erleben kann, wie der Rüde seine Zöglinge auf ihr späteres Leben vorbereitet, der bekommt ein Gespür für den Ernst, der hinter jedem Spiel steckt, das der Rüde mit seinen Welpen inszeniert. Scheinbar wenig zimperlich zeigt er ihnen, wie man mit Hilfe der Vorderläufe den Konkurrenten zu Boden zwingt, wie der Überlegene mit gezieltem Griff den Nacken oder die Kehle des "Gegners" greift, wie man im Rudel die "Beute" umstellt und jagt. Das Spiel wechselt von einem Hund zum andern; mal ist einer Beute, mal Jäger, hier unterlegen, dort überlegen. Haben Sie schon einmal das faszinierende Spiel beobachten können, wenn der Rüde, um einige Körperlängen größer als der Welpe, sich plötzlich auf den Rücken fallen läßt, die Geste des Unterlegenen, des Verlierers mimt und dem "Gewinner" Welpe seine Kehle darbietet, und der Welpe mit kurzem gezieltem Griff zupackt und sein "Opfer" (tot-)schüttelt ?
Aber auch das andere "Spiel": Der Rüde setzt seinem Zögling absolute Tabus. Z.B. legt er provokativ eine Beute vor sich hin, von der er sicher ist, daß sie den Welpen außerordentlich reizt. Das kann ein Stück Holz, ein Ball, ein Lappen oder gar ein Knochen sein. Nähert sich der Welpe, um die Beute zu erwischen, folgt als Antwort zunächst ein kurzer Warnlaut des Rüden. Ignoriert der Welpe dieses Signal, erhält er, für den Beobachter scheinbar absolut ohne jeden Anlaß, einen kräftigen Schubs, der so heftig ist, daß der Welpe weggeschleudert wird ("rüde Erziehung").
Eine andere, häufiger zu beobachtende Disziplinierung durch den Rüden besteht darin, den Welpen kurz aber heftig im Nackenfell zu packen. Dabei gibt der Rüde nicht zu überhörende Warnlaute von sich, die den Kleinen unverzüglich in die Unterordnungsgebärde zwingen: Rückenlage, Ohren nach hinten anlegen, Schwanz zwischen die Beine ziehen, Augen kugelrund aufsperren, Straffen der Kopfhaut, seitlicher Blick mit unverkennbarem Ausdruck absoluten Gehorsams, - das ist die blitzschnelle Abfolge der Gestik des gehorsamen Schülers.
Und der Rudelführer? Er steht, die Vorderläufe breitbeinig links und rechts vom Welpen wie im Boden verwachsen in souveräner Haltung, den Kopf und Fang bereit, in jedem Augenblick zuzupacken, über dem kleinen Geschöpf, und wehe, dieses zeigt auch nur die kleinste Geste des Trotzes oder des Widerstandes: Sofort folgt ein unmißverständliches Knurren des Rudelführers.
Damit ist dieses "Gehorsamsspiel" noch nicht zu Ende. Ganz im Gegenteil! Ein wichtiger Teil der Disziplinarübung folgt ebenso unverzüglich wie die vorherbeschriebenen Abläufe: Nachdem der Welpe seinen absoluten und unbedingten Respekt dem Rüden gegenüber zum Ausdruck gebracht hat, gibt er sein "Verstehen der Lektion" dadurch zu erkennen, daß er sich spontan, d.h. sofort zum Kopf des Rüden hochreckt und, wie zur Entschuldigung wegen des vorhergehenden Ungehorsams, die Lefzen des Rüden unterwürfig leckt. "Ich habe verstanden", oder "ich tu's nicht mehr" möchte man seiner Gebärde ablesen.
Und wie lautet die Antwort? Sofort, - nochmals betont! - sofort und ohne jeden Vorbehalt akzeptiert und respektiert der Rüde die Entschuldigungsgeste des Welpen: Er läßt sich die Lefzen lecken, jeglicher Groll ist weg; in überlegener Haltung, gepaart mit strenger, aber wohlwollender Zustimmung duldet er die Huldigung des Welpen. Ohne „Wenn“ und „Aber" und ohne nachtragende Verärgerung oder Beleidigung wird die Huldigung angenommen.

Ende des Gehorsamsspiels
Das Gehorsamsspiel ist damit zu Ende. Völlig unbeeindruckt von der vorhergehenden Maßregelung, so, als sei in der Tat nichts, aber auch garnichts gewesen, tollt der so Zurechtgewiesene im nächsten Augenblick wieder mit seinen Geschwistern, mit seinem Rudelführer oder mit einer, wie zufällig ergatterten Beute. Alles hat sich in kürzester Zeit abgespielt, in Sekundenschnelle, und dennoch, - oder gerade deswegen - ist der Lernerfolg deutlich und nachhaltig.
In dem Maße wie wir lernen, das vorher geschilderte Gehorsamsspiel zwischen Rüden und Welpen zu verstehen und nachzuvollziehen, werden wir wesentliche Konsequenzen des Rudelverhaltens des Hundes begreifen und für unsere Erziehungs- und Ausbildungsziele ausnutzen können.
Gäbe es eine Statistik über Ursachen für Probleme zwischen Mensch und Hund, man könnte fast alle Fälle auf falsches Rudelführerverhalten des Menschen gegenüber dem Hund zurückführen: Wenn der Hund nicht stubenrein wird, stiehlt, sich uns entzieht, Kinder umschubst, Eifersuchtsallüren gegenüber dem Partner(-in) des Hundeführers (-in) oder gegenüber Familienangehörigen zeigt, wenn er seine eigene Rangstufe höher setzt, als wir es möchten, wenn er plötzlich und scheinbar gegen alle bis dahin gemachten Erfahrungen sogar dem Hundeführer gegenüber aggressiv reagiert, wenn er sich "durch die Familie" beißt, wenn er sich kein Futter wegnehmen läßt, wenn er nach Verabreichung seiner Futterschüssel aggressiv wird, ja, so einfache Dinge, wie Zerren an der Leine ohne äußere Veranlassung und viele weitere hier nahezu endlos fortführbaren Beispiele über Schwierigkeiten mit dem Hund sind das Ergebnis falschen Verhaltens des Rudelführers Mensch.

Autor: Prof. Dr. Alfons Saus
 

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